Stellungnahme zum Informationsbericht „Die Überschuldung privater Haushalte“ der Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch der Europäischen Union

Stellungnahme zum Informationsbericht „Die Überschuldung privater Haushalte“ (CES212/2000 vom 20.6.2000) der Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch der Europäischen Union auf dem Hintergrund eines Fachgesprächs der Europavertretung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAG FW) mit der Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände (AG SBV) und Vertretern der Europäischen Union am 31. Mai 2001 in Brüssel

Der Informationsbericht „Die Überschuldung privater Haushalte“ der Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch des Wirtschafts- und Sozialausschusses der Europäischen Union bildet eine wertvolle Grundlage für eine weiterführende Diskussion über Fragen der Vermeidung und der Überwindung von Überschuldung und für die Einleitung von Maßnahmen auf der Ebene der Gemeinschaft. Die nachfolgende Stellungnahme unterstützt den Informationsbericht und versteht sich als ein Fachbeitrag von deutscher Seite zur weiteren Meinungsbildung und Entscheidungsfindung.

Armut und Überschuldung (als ein spezifischer Ausdruck wirtschaftlicher Armut) werden in Deutschland in einem übergreifenden Konsens im Wirkungszusammenhang mit der Entwicklung einer modernen Wirtschaftsgesellschaft gesehen (insgesamt gesehen jedenfalls nicht als Folge individuellen Fehlverhaltens oder moralischen Versagens verstanden). In einem dynamischen Veränderungsprozess von Bildung und Wissen, gesellschaftlichem Leben und wirtschaftlichen Bedingungen, bleibt ein Teil der privaten Haushalte zurück. Chancen und Risiken liegen im Modernisierungsprozess dicht beieinander. Es stellt sich die Aufgabe, in der gesellschaftlichen Entwicklung wirtschaftsschwache Haushalte mitzunehmen und bereits abgekoppelte private Haushalte zu reintegrieren. Bemühungen der präventiven wirtschaftlichen Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen und der nachholenden wirtschaftlichen Bildung und Beratung (wirtschaftliche Bildung durch Eltern und Schulen, Verbraucherberatung, Schuldnerberatung u.a.) sind ebenso wie Maßnahmen der Einkommensumverteilung oder die Ergänzung der Rechtsordnung durch das Rechtsinstitut der privaten Insolvenz darauf gerichtet, humane Bewältigungskompetenz aufzubauen, zu stärken oder wieder herzustellen.

Schuldnerberatung ist – wie Armutsbekämpfung überhaupt – nicht individualitätsfeindlich, sondern im Gegenteil individualitätsfreundlich. Sie setzt nicht allein auf eine Schuldenbereinigung, sondern ebenso auf eine Mobilisierung von Humanvermögen, auf nachholendes Lernen, auf die Stabilisierung individueller Verhaltensweisen, auf ein erneutes Heranführen an soziale Interaktion und Teilhabe. Eine Reduzierung des überwiegend strukturellen Problems der Überschuldung auf individuelle Schuld würde die Vielzahl der auslösenden Faktoren (Arbeitslosigkeit, Erfahrungsdefizite bei der Haushaltsführung und im Marktverhalten, Trennung von Paaren und Haushalten, gesundheitliche Probleme etc.) verkennen, Überschuldung als Randproblem eher verharmlosen und Lösungswege möglicherweise blockieren.

Es ist Konvention, Überschuldung als Mangel an Zahlungsfähigkeit zu definieren. Überschuldung ist ein Ausdruck wirtschaftlicher Armut und psycho-sozialer Notlage. überschuldete Haushalte können mit ihren laufenden Einkommen (nach Auflösung ihrer Reserven) den Zahlungsverpflichtungen nicht mehr vollständig nachkommen, selbst wenn sie ihre Lebenshaltung einschränken. Sie sind wirtschaftlich und sozial destabilisiert, auch in dem Sinne, dass sie sich wirtschaftlich einschränken müssen und eigene Kontrolle (Verbrauchersouveränität) über wirtschaftliches Handeln einbüßen. Sie geraten in eine ernste Unterversorgungslage, büßen soziale Teilhabe ein und sind erheblichen psychischen Belastungen ausgesetzt. Erfolgversprechende Entschuldungsstrategien erfordern eine Stabilisierung der wirtschaftlichen und der psychischen Seite.

Verarmungsprozesse, die in Überschuldung münden, werden mit dem Lebenslagenkonzept und dem Ressourcenkonzept erklärt (soziologisch und mikroökonomisch). Persönliche Lebensverläufe und berufliche Karrieren entwickeln sich heute vielfach unstetig (diskontinuierlich). Lebenslagen, Haushaltsformen und Lebensstile differenzieren sich in Deutschland seit über zwei Jahrzehnten aus. Lebensentwürfe sind vielfältiger geworden, zugleich offener und weniger stabil, verbunden mit Risiken und Chancen. Risiken wirtschaftlicher Verarmung haben zugenommen. Der rasche Wandel der Lebensverhältnisse (kritische Lebensereignisse) verlangt von privaten Haushalten und deren Mitgliedern flexibles Anpassungsverhalten und Fähigkeiten der Krisenbewältigung. Wird dies nicht geleistet, droht zunehmende Verschuldung und sozialer Abstieg.

Alltagsbewältigung in Privathaushalten erfordert die Verfügung und Kombination unterschiedlicher Ressourcen: humaner, materieller und sozialer (infrastruktureller) Ressourcen. Dabei erschließen humane Ressourcen (Kompetenzen) die anderen. Zu den materiellen Ressourcen privater Haushalte gehören nicht nur Erwerbseinkommen und Einkommenstransfers, sondern auch Naturaleinkommen (aus Haushalts- und Familienarbeit und Sachvermögensnutzung) und in modernen Gesellschaften immer mehr ein „Entsparen“ (Auflösung von Geldvermögen) oder Kreditaufnehmen. In angespannten wirtschaftlichen Lebensverhältnissen haben Kredite für eine flexible Liquiditätsversorgung und anpassungsfähige Haushaltsorganisation eine konstitutive Bedeutung, – sei es um künftiges Einkommen längerfristig vorzuziehen, sei es um eine diskontinuierliche Einkommenserzielung kurzfristig zu überbrücken. Die Versorgung breiter Schichten mit Konsumentenkrediten – gerade auch des wirtschaftsschwächeren Bevölkerungsteils – wird in Deutschland vor allem von Sparkassen, Volksbanken und anderen sehr agressiv werbenden Banken geleistet. Sie erfolgt in der Regel über Girokonten mit Überziehungslinien und über Ratenkredite. Eine mangelnde Wettbewerbsfähigkeit (Wettbewerbsverzerrungen) unter den Kreditanbietern kann nicht beobachtet werden. Wohl aber macht sich eine zunehmende Segmentierung des Kreditmarkts nach Kundengruppen und der Qualität von Finanzdienstleistungen bemerkbar. Zu beobachten ist einerseits, dass die Kreditinstitute ausgereifte produktive Finanzdienstleistungen einschließlich einer qualifizierten Beratung mehr und mehr auf wirtschaftsstarke Privathaushalte ausrichten, während es andererseits an einem entwickelten Finanzdienstleistungsangebot für wirtschaftsschwache Haushalte mit spezifischem Beratungsbedarf fehlt. Das Problem ist die fortschreitende Segmentierung des Kreditmarkts mit einer graduellen Abkoppelung der wirtschaftsschwächeren Privathaushalte. Es fehlen beispielsweise Kreditprodukte, die bei typischen kritischen Lebensereignissen auftretende kurzfristige Liquiditätsengpässe längerfristig konsolidieren. Auch fehlt es etwa in wirtschaftlichen Armutskrisen an einer Vermittlung wirtschaftlicher Bildung und Beratung für Inhaber für Girokonten. Eine bessere Ausschöpfung von Konsolidierungspotentialen in Armutskrisen vermeidet eine temporäre Zahlungsunfähigkeit.

Unterstützung finden die in den „Schlussfolgerungen und Empfehlungen“ des Informationsberichts „Die Überschuldung privater Haushalte“ vorgenommenen Positionierungen. Dies gilt ebenso für die Vorschläge für Maßnahmen der Mindestharmonisierung (,,… durch die Änderung und Verbesserung der bestehenden Gemeinschaftsvorschriften – insbesondere was den Verbraucherkredit, missbräuchliche Vertragsklauseln, die Richtlinien über die Tätigkeit von Kreditinstituten und Versicherungen, den Fernabsatz im allgemeinen und von Finanzdienstleistun- gen im besonderen, Werbestrategien, „Time-Sharing“-Verträge (Teilnutzungsrecht an Immobilien) etc. angeht“) wie für die Vorschläge einer Analyse im Rahmen eines „Grünbuchs zur Überschuldung der Privathaushalte in Europa“, eines „staatenübergreifenden Netzwerks für den Informationsaustausch“ und gegebenenfalls einer „gemeinschaftlichen Beobachtungsstelle für Überschuldung“. Der Wirtschafts- und Sozialausschuss kann bei seinen weiteren Beratungen jederzeit auf das Fachwissen der deutschen Schuldnerberatung zurückgreifen.

Auch unterhalb des Niveaus der empfohlenen Maßnahmen können Engagements zweckmäßig sein. Die deutsche Schuldnerberatung hält eine Verstetigung des Informations- und Erfahrungsaustauschs zwischen den Trägern der Schuldnerberatung in den EU-Ländern und die Moderierung eines Dialogs zwischen Finanzdienstleistern und Schuldnerberatung (auch) auf der europäischen Ebene für erforderlich.

Eine von der Europäischen Union mit den nationalen Organisationen der Schuldnerberatung periodisch ausgerichtete Fachtagung zu Fragen der Überschuldungsprävention und Überschuldungsbekämpfung würde nicht allein einen professionellen Informations- und Erfahrungsaus- tausch sicherstellen, sondern auch eine Transparenz bester Lösungswege (best cases) bei der Bewältigung von Überschuldungskrisen schaffen, von der Harmonisierungsimpulse ausgingen.

Auch für einen von der Europäischen Union moderierten Dialog zwischen Verbänden der Schuldnerberatung und Verbänden der Finanzdienstleister zu Fragen ihres Zusammenwirkens, zu Fragen der Effizienz von Finanzdienstleistungen bei wirtschaftlicher und sozialer Armut und zu Fragen des Verbraucherschutzes im Falle temporärer Zahlungsunfähigkeit kämen periodische Arbeitskonferenzen auf europäischer Ebene in Betracht. Solche Arbeitskonferenzen könnten zur Substantiierung der sozialen Absicherung von Arbeitnehmern und Verbrauchern in Armutskrisen Beiträge leisten.

In der deutschen Insolvenzordnung wurde zum 1. Januar 1999 das Rechtsinstitut der privaten Insolvenz und des gerichtlichen Verbraucherinsolvenzverfahrens neu eingeführt. Es ermöglicht überschuldeten privaten Personen unter der Voraussetzung ihrer Mitwirkung einen wirtschaftlichen Neuanfang und eine soziale Reintegration. Ein gerichtliches Entschuldungsverfahren kommt dabei immer erst in Betracht, wenn sich eine außergerichtliche Schuldenbereinigung mit Hilfe der Schuldnerberatung als nicht gangbar erweist. Auch wenn sich das neu eingeführte Rechtsinstitut noch bewähren muss, wird empfohlen, das Entschuldungsmodell des Verbraucherinsolvenzverfahrens grundsätzlich in die Überlegungen auf der europäischen Ebene mit einzubeziehen.

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